Arie Pinsker ist Jude und 94 Jahre alt. Anlässlich der 80. Wiederkehr der Befreiung von Auschwitz ist er aus Israel angereist und unterwirft sich hier in Stuttgart einem ein vollgepacktem Programm: Neben zahlreichen Presseterminen und der zentralen Gedenkfeier im Baden-Württembergischen Landtag will er junge Leute treffen und ihnen von sich und seiner Vergangenheit erzählen. Und so sitzen am 29. Januar 20 angehende Abiturientinnen des KKSt mit drei weiteren Schulklassen im Neuen Schloss und lauschen den Worten des alten Mannes.
Arie Pinsker spricht zum ersten Mal seit 80 Jahren Deutsch, ihm zuzuhören, ist mühsam. Er ringt um Worte, schaut immer wieder hilfesuchend zu seinem Übersetzer, der ihm mit dem passenden Ausdruck weiterhilft, aber die SchülerInnen hören ihm konzentriert und gebannt zu.
Arie Pinsker erzählt, wie seine Kindheit 1944 von einem Tag auf den anderen endet. Zusammen mit seiner elfköpfigen Familie wird er im Alter von 13 Jahren aus seiner Heimat Ungarn deportiert. Seine Mutter, sein Vater und sechs seiner jüngeren Geschwister sterben sofort nach Ankunft in den Gaskammern des Konzentrationslagers - ein Ereignis, das er nicht begreifen kann. „Ich war ein naiver Bursche“, sagt er über sich selbst. Er habe seine Familienangehörigen gesucht und so lange gefragt, wo sie seien, bis Tage später ein Häftling auf den Schornstein gezeigt und gesagt habe: „Siehst du den Kamin?“
Arie Pinsker selbst entgeht dem Tod nur knapp. Er ist Teil von Menschenversuchen der Nazis, bekommt kaum Wasser und Essen. Nach vier Monaten, so erzählt er, seien zwei Drittel der Lagerinsassen bereits an den Folgen von Hunger, Krankheit und Gewalt umgekommen. Er überlebt, weil fünf seiner Freunde aus Ungarn in demselben Lager sind wie er. Sie halten zusammen und stützen einander. Auch zwei seiner älteren Bruder stoßen zu der kleinen Gruppe. Pinsker sagt: „Wer allein im Lager war, hatte kaum eine Chance. Aber wir waren eine Gruppe.“
Später kommt er in ein Lager bei Dachau, auf dem Todesmarsch nach Österreich wird er von den Alliierten befreit. In einem Waisenhaus nach dem Krieg erfährt er zum ersten Mal von Israel, von einem Land für Jüdinnen und Juden. Er geht nach Israel, gründet eine Familie und ist glücklich mit dem Leben, das er nach dem Krieg hatte. Vom Krieg hat er lange nicht sprechen können, doch heute erzählt er davon. Als die SchülerInnen ihn fragen, wie er es aushalte, nach 80 Jahren ins Land der einstigen Täter zurückzukehren, sagt er in seinem gebrochenem Deutsch: „Vor mir sitzen junge, freundliche Menschen, eine neue Generation, die sich für die Vergangenheit interessiert. Die Begegnung mit euch schenkt mir ein bis zwei weitere Jahre Leben.“